Sammel die Glitches 2

Seid willkommen, verehrte(r) Anonymous!

Heute schreibe ich über etwas, was meiner Meinung nach öfter übersehen wird, wenn wir über psychische und emotionale Gewalt in Familien reden. Ach ja, Familie. Die Keimzelle des Staates. Hey, nicht die Augen verdrehen beim lesen, ich sehe euch!:-)

Rigides Denken über Geschlechter, Geschlechterrollen und Geschlechtsidentität ist immer ein schlechtes Zeichen. Es gibt nur dies und das, aber nicht jenes. Das nenne ich eine binäre Sichtweise auf die Welt haben. Diese Art nur schwarz und weiß wahrzunehmen und (an-)zu erkennen, endet meist in Rassismus, Sexismus, Klassismus, Krieg etc. 

Das Freund-Feind-Schema dürfte vielen geläufig sein und ist, so scheint es mir, das bekannteste (und vielleicht gefährlichste?) Beispiel für Schwarz-Weiß-Denken. Wenn du kein Freund bist, bist du ein Feind. So einfach ist die Welt, dazwischen gibt es nichts. 

Eine unschöne Ausprägung des menschlichen Denkens und Wahrnehmens. 

In meinem Fantasyroman Kleefee und Kaninchenritter ist Kommandant Leafus, der Anführer der Kleefeen-Armee genau so ein Charakter. Er sieht die Welt nur in Schwarz oder Weiß. Seid ihr nicht für uns, Prinzessin, seid ihr gegen uns. Freund oder Feind. Auch die Kammerzofe Celika steht für die Folgen, die so ein Denken haben kann. Aber zurück in diese Welt.

Menschen, die so denken, wollen meist eine ordentliche, sauber einzuteilende Welt. Gut, Böse, Freund, Feind. Denn eine Welt, die eindeutig, sauber und ordentlich ist,  ist viel, viel einfacher zu kontrollieren und notfalls wird diese Ordnung eben mit Gewalt wieder hergestellt. Und genau das ist es, was unter Umständen tatsächlich im Alltag faktisch gefährlich werden kann. Gerade auf der Mikro-Beziehungsebene Familie. 

Aber genug der Theorie. Ich liebe ja die alltäglichen Situationen, in denen wir das ganz konkret betrachten können. Sammel nun weitere Glitches mit mir, um die Erkenntnis-Liste über narzisstische Familiensysteme zu erweitern:


Wenn der Makel dein Geschlecht ist:

Achtung! 
Dieser Artikel basiert auf eigenem Erlebten und ist nur zur beispielhaften Darstellung gedacht. Bitte nicht mit wissenschaftlichen Standards hier drangehen. Vielen Dank! 


 „Wärst du doch bloß ein Junge geworden, dann hätte ich es so viel leichter. Mädchen sind so schwierig.“

Nimm Dir nur 1-2 Minuten und lasst den Satz einfach wirken. Vor allem, wenn du Kinder planst, gerade bekommst, oder bereits hast. Was geht Dir durch den Kopf? Ungläubige Fassungslosigkeit? Omg, ich würde sowas niemals zu meinem Kind sagen. Oder Empörung? Wie kann man das zu seinem Kind sagen? Geht ja gar nicht. Oder reagierst Du mit glatter Verleugnung? Ach, das ist doch bestimmt nicht so gemeint.

All deine Reaktionen sind absolut legitim. Aber, das ist noch nicht alles. Wir gehen direkt einen Schritt weiter:

Stell dir bitte so detailliert wie möglich vor, dir wird genau das ins Gesicht gesagt. Von deinen Erziehungsberechtigten. Und zwar nicht als Ausnahme, weil im Streit ein Wort das andere ergeben hat, sondern bei jeder Gelegenheit. Eine Art Mantra, dass sie um dich herum runter beten. Es wird und ist sozusagen ein normaler Umgangston in deinem Alltag. Ein beständiges Rauschen. Bei allem, was du tust.

Wenn du lernst, arbeitest, spielst, am Tisch beim Essen sitzt, ein Fußballspiel anschaust, ein Instrument spielst, eine riesige Manager-Karriere hinlegst oder eine selbständige Existenz aufbaust und selbst wenn du schließlich deine alt gewordenen, dementen narzisstischen Eltern pflegst, die dich mit diesem Mantra dein Leben lang klein gehalten haben.

Und das geht, sagen wir völlig willkürlich, ca. 35 Jahre lang.

35 Jahre lang fühlst du dieses latente ungewollt sein. Du fühlst den impliziten Vergleich jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, wenn du noch weitere (männliche) Geschwister hast, vielleicht noch stärker.

Du fühlst über Jahrzehnte diese latente emotionale Lücke oder auch Benachteiligung. Ich werde jetzt noch deutlicher und behaupte: Du fühlst diese, von der Gesellschaft tolerierte, sexistische Alltagsdiskriminierung jeden Tag. Ohne Pause.

Du fühlst, nein, du weißt, du kannst nichts richtig machen und hast dem nichts entgegenzusetzen. Denn, wenn du dich wehrst als Mädchen, als Frau, bist du hysterisch, zu empfindlich, zu schwierig, dir geht es zu gut, oder knallhart formuliert: Wenn du nicht deinen Mund hältst, liebe ich dich nicht mehr und du kannst schauen, wie du was zu essen bekommst.

Weil du scheinbar das „falsche“ Geschlecht hast, ist es völlig selbstverständlich, dass du den Haushalt schmeißen musst, dass du dich um kranke Familienmitglieder kümmerst und dabei schön brav den Mund hältst. Denn dir könnte es in einer anderen Familie doch noch viel schlechter ergehen. Also, sei gefälligst dankbar, dass wir dir ein Dach über dem Kopf bieten und dich nicht nackt zur Schule schicken und dich nicht verhungern lassen.

Na? Wie fühlt sich das an, wenn du dir vorstellst, du wärst dabei 6 Jahre, 8 Jahre, 10 Jahre?

Du wirst aufgrund eines scheinbar eindeutigen äußeren Erscheinungsbild in eine Rolle gestopft, gezwungen, genötigt, die du weder benennen, noch überblicken, noch einschätzen kannst. Plötzlich musst du nicht nur lesen und schreiben lernen, gefälligst gute Noten mit nach Hause bringen, wenn nicht, gibt es deswegen selbstverständlich zusätzlichen Stress, sondern auch lernen die Wäsche zu machen. Nein, nicht deine eigene. Du sollst morgens das Frühstück machen, nein, nicht unbedingt für dich selbst und abends sollst du tipptopp vorbereitet für den kommenden Tag sein, inklusive des Wissens, dass du dich noch um die demenzkranke Großmutter mit kümmern musst. Inklusive Hausaufgaben. Erwähnte ich, dass wenn du dich in irgendeiner Weise beschwerst oder übermüdet Fehler machst, du zu hören bekommst: Reiß dich zusammen, wie dumm kann man sein, sei nicht so empfindlich, du hast es doch so gut!!

Was will ich mit dieser bizarren und erschreckenden Fantasy-Reise, oder besser gesagt, diesem Horror-Trip, sagen? 

Ich will darauf hinaus, dass jahrzehntelange familiäre Demütigung etwas sehr, sehr Unschönes hinterlässt.

Denn was merkt sich dein kindliches Brain jetzt (nicht alle, aber die meisten):

Wenn ich kein Mädchen wäre, dann wäre nicht alles so kompliziert und dann würden es Mama oder Papa viel leichter haben und mich mehr lieben können. Okay, ich kann leider (noch) nicht meine äußere Erscheinung ändern, aber ich kann unkompliziert, brav werden und alle Anforderungen erfüllen. Ich werde alles tun, was ihr sagt und mich, solange ich die Kraft habe verausgaben, nur damit ihr mich seht, hört, liebt oder wenigstens in Ruhe lasst.

Und jetzt überlege ganz kurz zum Abschluss, was diese Art psychischer Prägung für eine kindliche Entwicklung bedeutet. Na?

Was könnte chronischer Stress für Auswirkungen auf den kindlichen Organismus haben. Ich meine, du bist erwachsen und kannst mit Stress ja umgehen, weil ständiger Stress ist ja normal in dieser kapitalistischen Turbo-Gesellschaft … oder, etwa doch nicht?

Wie kommen dann Erwachsene auf die Idee, Kindern alles zumuten zu können, zu dürfen, oder wesentlich dreister und krimineller, ein Recht darauf zu haben, Kinder so zu behandeln und unter chronischen psychischen Stress zusetzen und damit ungestraft davonzukommen? In der Tat brauchen wir Justizreformen, aber in ganz andere Richtungen.

Chronischer Stress in der Kindheit macht krank. Die Krankheitsbilder und Symptome variieren selbstverständlich. Man spricht mittlerweile von Entwicklungstrauma. Manche kämpfen später mit Burnout, manche mit Depression, manche haben Angststörungen, je nachdem wie krass der chronische Stress eben ist oder war. Es hinterlässt Spuren, die einen einschränken können und zwar das gesamte Leben.

Warum bin ich auf einmal so müde? Ich habe doch gar nichts gemacht, denkt sich doch so mancher Mensch immer wieder.

Tja, ein Blick in die eigene Geschichte lohnt sich. Immer. Auch wenn es weht tut. Schau in deine Geschichte.

PS:

Achtung! Natürlich funktioniert das Ganze auch andersherum:

„Wärst du doch bloß ein Mädchen geworden, dann könnte ich dir süße Kleidchen anziehen und die Haare schön machen.“

Einfach 1-2 Minuten lang wirken lassen und die ganze Denkübung auf männlich gelesene Personen übertragen. Schaffst Du schon:-)


 

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