Schreib-Challenge #52in23 Kurzgeschichte Nr. 5
Seid gegrüßt verehrte*r Anonymous!
Hier ist Kurzgeschichte Nr. 5. mit ca. 382 Wörtern. Ist diesmal nicht ganz so düster wie die letzte geworden, aber ich habe mich unwillkürlich gefragt, was die Figur Düsteres erlebt haben muss, um dieses Ergebnis zu bekommen.
Ich weiß nicht so ganz genau, was mich zu dieser kleinen Geschichte inspiriert hat, aber ich mag gerne Spiegel-Referenzen vor allem in der Fantasy:-).
Viel Spaß beim Lesen!
Spiegellegende
Der dichte Laubwald öffnete sich und gab den Blick auf das Ufer des langgestreckten Sees frei. Mücken tanzten über dem Wasser in der Abenddämmerung, während zerfaserte Nebelschleier aufstiegen und ihr Gefühl verstärkten, eine andere, fremde Welt betreten zu haben.
Rechts und Links verloren sich schmale Trampelpfade im Dickicht des Schilfes. Das rhythmische Hämmern eines Spechtes durchdrang die feuchte Stille, die hochgewachsenen Halme raschelten in der nach Sommer duftenden Brise. Sie sog die laue Luft ein, strich sich die Haare aus der Stirn und machte einen Schritt auf das Wasser zu. Die Oberfläche federte ein wenig, trug sie aber. Es fühlte sich an, als würde sie auf einem dicken Teppich entlanglaufen. Sie schirmte ihre Augen gegen das brennend rötliche Licht der untergehenden Sonne ab, ging weiter und hielt auf die Mitte des Sees zu. Dort, hinter einer milchigen Barriere aus Fluch-Zaubern, sollte sich der Spiegel „Hundertglas“ befinden.
Sie blinzelte und rückte Köcher und Bogen zurecht. Bald würde sie wissen, was sie sich aus tiefstem Herzen wünschte. Jahrelang war sie auf der Suche gewesen, doch nie hatte sie das gefunden, was andere als Herzenswunsch bezeichneten. Sie schaute auf die Wasseroberfläche hinunter und konnte goldrote schlanke Fischleiber unter ihren Füßen erkennen. Der Duft nach Tang drang ihr plötzlich in die Nase und sie schmeckte Salz auf ihren Lippen. Eine flüchtige Illusion. Den Blick wieder nach vorne richtend, sah sie die Barriere, die nun wie eine undurchdringliche Mauer vor ihr aufragte, doch sie zögerte nicht und hielt darauf zu. Im letzten Moment, bevor sie gegen die Barriere stieß, zerriss der milchige Schleier, der sonst den Spiegel Hundertglas vor den Augen der Sterblichen verhüllte.
Ihre Augen erfassten eine riesige, rechteckige Fläche, die sich wie flüssiges Quecksilber bewegte. Eingerahmt wurde sie von einer dünnen Mythril-Legierung, glitzernd wie Morgentau. Ehrfürchtig hielt sie den Atem an und blieb vor dem Spiegel der Wünsche stehen. In dem Augenblick als ihr Blick auf die flüssige Fläche fiel, zitterten kleine Wellen darüber und nahmen eine glasige Transparenz an. Sie spürte ihren Bogen und Köcher nicht mehr, während sie dem Spiegel näher kam. Ihr Atem bildete kleine Wolken auf der Fläche, doch Hundertglas blieb leer, das Bild änderte sich nicht.
Das Wunschglas spiegelte nichts, blieb so blank und leer wie ihr Herz, dass sich schon vor langer Zeit gewünscht hatte, niemals mehr zu wünschen.
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