Sind wir nicht alle ein bisschen narzisstisch?

Seid gegrüßt, verehrte(r) Anonymous!

Heute geht es um ein Thema, was mir jetzt schon öfter begegnet ist und was mich unglaublich aufregt und sehr wütend macht.

Es geht um Verharmlosung durch Phrasendrescherei.

„Aber sind wir nicht alle ein bisschen narzisstisch?“ 

Zwinkersmiley gesendet.

Spoiler 1: NEIN!

„Na ja, liegt es nicht in der Natur des Menschen egoistisch zu sein?“

Zwinkersmiley gesendet. 

Spoiler 2: NEIN!

„Ellbogenmentalität findest du überall. Gewöhn dich dran.“

Gähnender Smiley gesendet.

Spoiler 3: NEIN!

Was haben diese drei Sätze gemeinsam? Sie stoßen bei mir auf wenig bis gar kein Verständnis. Lest selbst, warum:

Diese Sätze habe ich beispielhaft aus meinem Phrasendrescherei-Beutel gezogen. Das sind sie nämlich. Phrasen. Dinge, die im Alltag dahin gelabert und so gut wie nie korrigiert, geschweige denn hinterfragt werden. 

Ihr kennt das alle ja schon vom letzten Artikel: 

Nehmt euch pro Phrase 1-2 Minuten und lasst sie nur wirken. Einfach wahrnehmen, was sie bei euch auslösen. 

Vielleicht gar nichts? Vielleicht ein kurzes Stirnrunzeln oder eine bestimmte Art von Unruhe? Oder ihr könnt nicht genau sagen, warum, aber irgendeiner der Sätze sitzt nicht richtig, sorgt für emotionales Rumoren?

Gut. Behaltet das im Hinterkopf oder sprecht euch eine WhatsApp-Nachricht über eure Reaktion ein, hier folgt meine total subjektive Sicht auf diese Phrasen:

I.

Zum 1. Satz: 

Aber sind wir nicht alle ein bisschen narzisstisch?

Mit diesem Satz zeigt die äußernde Person lediglich die eigene Ahnungslosigkeit darüber, was narzisstisch eigentlich bedeutet. Hier befinden wir uns auf der ersten Ebene, der begrifflichen. Wenn es hier schon hakt, plappert jemand nur nach, hat irgendwo was aufgeschnappt, ohne sich Gedanken zu machen. Eigentlich ist das ein Satz, den ich getrost ignorieren könnte, weil arrogant gesagt, ist das einfach nicht mein Niveau.

ABER: Dieser Satz trieft vor Ignoranz und VERHARMLOSUNG. 

Narzisstische Persönlichkeitsmuster richten auf der ganzen Welt einen Schaden an, den sollten unsere Ökonomen mal berechnen (Krankheitszeiten wäre durchaus ein Stichwort, denn viele Opfer narzisstischen Missbrauchs sind tendenziell häufiger krank). Die Zahlen häuslicher Gewalt steigen, werden kaum hierzulande in eigenen Statistiken geführt. Die Opfer arbeiten irgendwo, wenn sie nicht im schlimmsten Falle Gefangene in ihrem eigenen Haus sind.

Die Verharmlosung psychischer Gewalt in Form narzisstischen Kontrollwahns (hallo Chefetagen?!), Gaslighting und andere Formen emotionalen Missbrauchs, sind selbst ein Symptom. 

Wenn wir alle so ein bisschen narzisstisch sind, dann ist das ja normal und wir akzeptieren dies achselzuckend, weil ein bisschen Schwund gibt es immer. 

Blöde Gegenfrage: Nur, weil etwas normal erscheint, macht es das besser? 

Spoiler 4: NEIN!

Von sich auf eine schwammige Allgemeinheit zu schließen ist überwiegend ein Fehlschluss und Überschneidungen meist Zufall. Und übrigens auch andersherum. Nur weil das bei mir so war, muss es bei anderen Menschen noch lange nicht so sein. 

Solche Verallgemeinerungen sind übrigens sehr beliebt und praktisch. Warum? Na, weil wir dann nichts aktiv ändern müssen, weil geht ja nicht. Wir sind ja alle narzisstisch. Also gibt es auch niemanden, der Hilfe braucht oder von der Veränderung profitieren würde. Mit anderen Worten: Es gibt keine Opfer! Passiv-aggressives Aussitzen vom Feinsten. 

II.

Zum 2. Satz:

Na ja, liegt es nicht in der Natur des Menschen egoistisch zu sein?

Spoiler 5: NEIN!

Wow, gleich mit der sogenannten Natur des Menschen um die Ecke zu kommen, macht mich immer direkt misstrauisch. Dieser Essentialismus. Gerne eng verknüpft mit Rassismus und Sexismus. 

Wer bestimmt denn, was die sogenannte Natur des Menschen ist? Weder Wissenschaft noch Religion sind sich da einig, aber Maxi Mustermann aus Musterdorf will das natürlich genau wissen und mir selbstverständlich in aller epischen Breite erzählen. Look who’s talking, kann ich nur sagen. Und das ist nicht nur ein geflügelter Satz: Schaut euch wirklich genau an, wer da gerade, meinetwegen im Bundestag, spricht. Und nur ganz nebenbei: Egoistisch bedeutet NICHT narzisstisch! Setzen. Sechs. 

III.

Zum 3. Satz:

Ellbogenmentalität findest du überall. Gewöhn dich dran.

Spoiler 6: NEIN!

Dieser Satz ist so ziemlich der gefährlichste, wenn ihr mich fragt. Wenn Rücksichtslosigkeit, denn nichts anderes sagt das Wort Ellenbogenmentalität aus, zur Norm wird, oder schon ist, dann bewegen wir uns auf sehr dünnem, zivilisatorischem Eis. Rücksichtslosigkeit ist ein Mittel, um Angst zu schüren (wann wird mensch wieder ausflippen?), um stimmlos zu machen, um zu verletzen. Habt ihr schon einmal ernsthaft einen Ellenbogen abbekommen? Das kann schon mal eine blutige Nase oder fiese blaue Flecken bedeuten oder auch Atemnot, wenn dich jemand am Solar Plexus erwischt. Die Ellenbogen einsetzen ist nichts anderes als Gewalt. Mental heißt hier, dass du dich schon im Inneren darauf vorbereitest, Gewalt auszuüben oder zu erfahren. Der Schritt vom mentalen Panzer zum Einsatz realer Panzerfäuste ist nicht weit. In der Arbeitswelt lassen solche Denkmuster tief, sehr tief blicken. Aber nicht nur dort: Wenn ihr euren Kindern sagt, setz deine Ellbogen ein, um dich durchzusetzen, bringt ihr ihnen Gewalt bei. Und die wird niemals nachhaltig Konflikte lösen. Immer nur schüren oder künstlich klein halten, bis das Ventil kaputtgeht. Und daran soll ich mich auch noch gewöhnen?!

So. Ich hoffe, ich habe es geschafft, euch ein bisschen sprachlich zu sensibilisieren. Hört hin und erinnert euch an die W-Fragen: Wer sagt was, wann, wo, wie und warum. Hinterfragt die oft unsinnige Phrasendrescherei. Denn das ist wirklich ein riesiges Merkmal narzisstischer Persönlichkeitsstrukturen und -stile. 

Oh, bevor ich es vergesse: Eine Figur in meinem Projekt Barde ist genau so ein Phrasendrescher oder doch eine Phrasendrescherin? Ziemlich unsympathisch, aber wichtig für den Protagonisten.