Schreib-Challenge #52in23 Update: Kurzgeschichte Nr. 11 oder Die erste Wunde, Vers IX
Seid gegrüßt verehrte*r Anonymous!
Und nun beginnt es. Das Große Ende. Im Rahmen der Schreib-Challenge #52in23 ist es Kurzgeschichte Nr. 11, im Rahmen der Chronik des Großen Endes Nr. 1.
Grundsätzlich schreibe ich ja lieber hoffnungsvolle Geschichten, aber die Video Games von Yoko Taro -sensei und SQUEX haben mich so sehr beeindruckt, dass ich dachte, ich probiere das mal mit der Dystopie oder (post-) apokalyptischen Erzählung.
Ich hoffe natürlich, dass ihr Gefallen daran findet.
Und nun, wappnet euch gegen Blut, Gewalt, Zerstörung und Hoffnungslosigkeit aus einer nicht chronologisch erzählten Ich-Perspektive und klicket auf "Mehr Anzeigen", so denn ihr es denn wagt.
Die erste Wunde, Vers IX, Natur:
Rückblickend betrachtet, ergibt immer alles einen Sinn. Doch wenn einen die Lawine an Ereignissen überrollt, dann ergibt sich Sinn selten bis nie. Wenn ich mich mit einem Messer in den Finger schneide, dann blutet die Wunde. Manchmal stärker, manchmal schwächer. Wenn ich hinfalle und meine Knie aufreiße, kann es ebenfalls bluten. Fakt ist, ich sehe, dass ich blute und kann direkt etwas dagegen tun.
Ein Pflaster nehmen, einen Verband umlegen oder mit einem Taschentuch die Wunde abtupfen. Doch was ist, wenn ich gar nicht bemerke, dass Blut fließt? Was wäre, wenn ich seit Millenniagedenken unterwegs bin, ständig blute, aber nichts passiert?
Kein Schwindel, kein Schmerz, keine sichtbare Verletzung, keine Schwäche, kein Tod. Keine rote Spur hinter mir, keine Tropfen auf meinem Kopfkissen, kein Geschmiere auf Klinken und Türrahmen. Nichts. Und doch blute ich. Ich blute, seit ich damals auf dieser seltsamen Ackerkrume aufgewacht bin.
Unter einem bräunlich orangefarbenen Himmel, einem unangenehm kränklich warmen Wind und einem zähem, viskosen Regen ausgeliefert, der selbst auf meiner sehr glatten Hautoberfläche hartnäckig kleben blieb. Ich strich mit meinem Finger darüber, doch alles was ich erreichte war, dass sich mein Unterarm mit einem bräunlich rotem Schmierfilm überzog. Ich ließ davon ab, seufzte, richtete mich auf und sah mich um. Karges Ackerland soweit das Auge reichte. Nichts wuchs, wie denn auch, bei diesem Himmel und Schmierregen.
Ich bewegte vorsichtig meine Glieder und bemerkte erst jetzt, dass mein Sniper-Visier schief hing. Etwas rechts von mir, lag das Scharfschützengewehr. Ich nahm das Visier ab und versuchte aufzustehen. Ich rollte mich erst herum und hievte mich auf die Knie. Erst auf eins, dann auf beide. Es viel mir seltsam schwer, doch hatte ich keine Schmerzen. Langsam setzte ich erst den einen, dann den anderen Fuß auf den Ackerboden bis ich mich schließlich aufrichtete und gerade stand. Als ich mich dem vertrauten Gewehr näherte, erkannte ich, dass es verbogen war. Doch ich konnte mich nicht erinnern, gekämpft zu haben. Wie war ich hierhergekommen? Was war passiert?
Da flüsterte plötzlich eine Stimme in meinem Kopf:
Sie haben dich zurückgelassen. Sie haben dich dem Regen ausgesetzt, weil sie dich auflösen wollten. Sie wollten ein Exempel an dir statuieren. Sie haben dich jedoch unterschätzt. Du hast sie zu Staub zermalmt, wie es deine Aufgabe war. Zu dem Staub, auf dem du gerade noch seelenruhig geschlafen hast.
„Sei still!“ schrie ich.
Die Stimme verstummte, doch ich hörte sie, tief in meinem Geist eingesperrt, lachen. Ich hockte mich hin, schlang die Arme um meine Knie und wiegte mich hin und her. Der zähe Regen hatte aufgehört, aber dieser seltsam warme Wind, nicht. Gedankenverloren rieb ich mir meinen Unterarm, doch die schmierige Substanz ging nicht ab. Ich rieb kräftiger und stärker doch vergebens.
„Geh ab, geh ab“, zischte ich, doch das Geschmiere verteilte sich nur noch mehr, schien mich zu verhöhnen, denn meine Haut wurde auf einmal heiß, färbte sich schwarz und blätterte von meinem Arm wie das uralte Blattgold von verfallenden Ikonen. Meine Hautfetzen sanken zu Boden und vermischten sich mit der Ackerkrume bis ich Erde von Haut nicht mehr unterscheiden konnte.
Ich starrte die Stelle auf meinem Arm an. Es tat nicht weh, nur kleine Dampfschwaden zeigten an, dass die Stelle versengt worden war. Ich blinzelte, dann tastete ich, wie von einem Instinkt geleitet, meine Hosentaschen ab und zog ein Pflaster mit Blümchenmuster heraus. Stirnrunzelnd betrachtete ich das zu kleine Ding, steckte es wieder weg, kramte erneut in der Tasche und förderte eine saubere Verpackung mit zwei weißen Verbänden zutage. Ich hatte nichts um die angesengte Stelle zu säubern, also wickelte ich einen der Verbände um meinen Arm. All das verursachte keine Schmerzen, aber mein Unterarm blieb heiß unter dem Verband. Ein weiterer Griff in meine Hosentasche förderte ein Militärmesser mit einer langen Titanium-Klinge hervor.
Titanium war das Mittel der Wahl, wenn es um das Beseitigen störender Elemente ging. Störender Elemente wie Sandmonster, mutierte Zweibeiner, Kampfinsekten und durchgedrehte Netzmaschinen. Der warme Wind gewann an Stärke und fauchte mir in den Ohren. Ich drehte meinen Kopf weg und hielt mir die Hand vors Gesicht. Der Himmel ging von einem Braunorange in ein gelborange über. Es musste mittlerweile Mittag sein. Ohne Zweck und Ziel fühlte ich mich orientierungslos und spielte eine Weile mit dem Messer in meiner Hand.
Ich kann mich nicht wirklich erinnern, aber hier muss es geschehen sein. Es war der einzige Moment, in dem ich mich mit einer Klinge derart schneiden konnte, ohne es zu bemerken. Vermutlich tropft seitdem mein Blut kontinuierlich auf die Erde, egal wohin ich gehe, oder wann ich bin. Mein Blut tränkt alle Welten. Heute weiß ich das. Wenn ich geahnt hätte, was ich dort auf dem Acker in dieser orangefarbenen Welt ausgelöst hatte, ich hätte mir meine Titanium-Klinge direkt ins Herz gestoßen. Dann gäbe es Mutter Natur noch. Vielleicht.
Mein Weg führte mich über den Acker ohne das verbogene Gewehr. Auch das Visier wanderte in meine Tasche. Ich ging zügig, aber nicht zu schnell. Ich hatte keine Eile. Wenn die Stimme in meinem Kopf recht hatte, und es gab keinen Grund an ihr zu zweifeln, dann musste ich wohl meine Leute umgebracht haben. Ich steckte meine Daumen in die Schlaufen meines Gürtels und versuchte mich zu erinnern, ob ich, wem auch immer, Rede und Antwort schuldig war. Doch mein Kopf war wie eine formatierte Festplatte. Leer. Es fühlte sich so an, als hätte ich all meine Kapazitäten verbraucht und nun mussten meine Synapsen erst wieder Stoff bekommen um zu klicken.
Ich verzog den Mund, stiefelte drauflos. Ab und an blickte ich auf, beobachtete wie der Himmel von hellorange zu orange zu rötlich überging. Es sah aus, also ob der ganze Himmel in Flammen stand. Wie eine brennende Kuppel, die sich in die Unendlichkeit spannte. Wer weiß, vielleicht brannte das ganze Universum und niemand ahnte davon etwas. Nur der Teufel. Oder der Oberdämon, der es mit seinem Höllenfeuer beim letzten Gelage übertrieben hatte und jetzt so tat, als wäre nichts geschehen. Ich erwischte mich dabei, wie ich bei dem Gedanken kicherte. Absurd.
Das Kichern blieb mir jedoch im Halse stecken, als ich über ein Gatter stieg und einen kleinen Abhang hinunter wanderte. In der Mulde standen Bauernhäuser, oder das, was einmal Bauernhäuser gewesen waren.
Der Boden schlug Blasen, schien zu kochen. Von den Häusern schimmerten nur noch verkohlte Ruinen durch den beißenden Rauch. Entsetzt verharrte ich.
Die Stimme regte sich in meinem Geist:
Oha, sieht so aus, als hättest du richtig Spaß gehabt. Ich mein, kein Wunder nach all dem, was man dir angetan hat. Niemand hat das recht, dich in irgendeiner Weise zu kritisieren. Immerhin hast du sie sogar gewarnt. Ich war dabei. Du warst fair. Ich an deiner Stelle …
„Sei still.“
Ich schrie diesmal nicht, sondern kniff die Augen zusammen und versuchte eine Verbindung zwischen diesem Stück brennender Erde, den Ruinen, der Stimme und mir zu ziehen. Ich scheiterte. Unruhig tigerte ich weiter, bis ich hinter dem nächsten Hügel brennende Brunnen erblickte. Meine Hände wurden feucht, mein Atem ging schwer. Es stank nach verbranntem Fleisch und als ich an den Brunnen vorbei war, sah ich warum. Überall lagen verkohlte Leichen. Zweibeiner, normale Tiere, Sandmonster, kreuz und quer übereinander. Ungläubig schaute ich von rechts nach links. Sie mussten Hals über Kopf geflohen sein. Vor, vor, vor …
Dir. Ja genau. Vor Dir. Vor Dir allein. Du hast dich befreien können. Schwer verletzt bist du deinen Folterern entkommen, die dich vergewaltigten, dir die Fingernägel herausrissen, deine Gelenke brachen, dich blendeten. Doch du hast sie alle vernichtet. Mit deinem Feuer, mit deinem letzten Atem hast du diese Welt in Brand gesetzt. Erst hier, dann hast du deine letzten Verfolger auf dem Acker vernichtet. Feuerwinde schossen aus deinem Mund, aus deinen leeren Augenhöhlen, aus deiner Nase, aus deinen eitrigen Fingerspitzen und mit der Macht des Hasses fachtest du sie weiter an und immer weiter, immer weiter, bis …
Bis selbst der Himmel in Flammen stand und die Wolken Tränen aus zähem Blut weinten. Bis ich aufhörte innerhalb meines Körpers zu existieren. Ich war das Feuer, das Feuer war ich und es fraß sich durch diese Welt. Unaufhaltsam. Gnadenlos. Doch nicht alles fiel meinen Flammen zum Opfer. Ich selbst verbrannte nicht. Im Gegenteil, die Hitze in mir heilte, stärkte mich. Ich konnte wieder sehen, meine Finger spüren. Frei, stark, Unbesiegbar und endgültig allein.
Ich lege den Kopf in den Nacken. Und inmitten des Gestanks von verbranntem Fleisch und brennenden Himmel, der sich wie ein rotes Tuch um diese Welt, der ewigen Wunde dieses Universums legt, schreie ich in die Leere hinein, bis gnädiges Schwarz meine Sinne erodieren lässt und ich nicht mehr sagen kann, was ist und was war. Denn nichts wird mehr sein. Nicht einmal mehr Mutter Natur.
Ende Vers IX
Nächste Woche folgt Die zweite Wunde
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